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Das italienische Studio Interactive Stone wurde erst 2015 ins Leben gerufen. Trotzdem liefert es mit Gray Dawn ein Spiel ab, das locker auch einer altetablierten Schmiede entstammen könnte. Über eine religiöse Innovationsgranate, die die uns umgebene Welt einfach ausblendet.
Gray Dawn: Ein unheiliger Heiligabend
Es ist der 24. Dezember 1920, irgendwo in einem Dorf in England. In der Rolle des Priesters Vater Abraham erheben wir uns von einer luxuriösen Couch. Das riesige Kruzifix an der Wand verstrahlt jede Menge göttliche Wärme; aus dem Transistorradio erklingt „Deck the Halls“.
Ja, es könnte ein muckeliger Heiligabend sein, wenn uns der Herrgott denn nicht verstoßen hätte. Vielleicht nicht ganz auf eine Weise, wie er Luzifer verstieß, den wir einst zu unserem vertrauten Freund gemacht haben sollen. Aber wir stehen allein in unserem Heim – schutzlos gegenüber den dunklen Mächten, die hier ein böses Spiel mit uns treiben.

Denn der augenscheinliche Frieden trügt: Das gesamte Haus scheint von Blasphemie durchzogen. „Gott ist tot“, steht auf einer Schweine-Skulptur, „Essen ist keine Sünde“ auf einem zerschnittenen Nagetier. Aus dem Radio kommen nun schwere Vorwürfe: Kinder sollen wir ermordet haben – Waisen, die wir als Priester unser Leben lang betreuten.
Dann plötzlich haben wir eine schreckliche Vision: Als invadierten Dämonen in Hasengestalt unser Zimmer, können wir uns ob ihrer Macht kaum mehr auf den Beinen halten. Satan wolle uns zum Befehlshaber seiner Armeen machen, gratuliert uns lachend eine irre Stimme. Fast schon verlieren auch wir den Verstand, als sich hinter uns – in unserem Wandschrank – ein rettender Zugang zu einer Paralleldimension öffnet.

Engelchen und Teufelchen?
Bibi Blocksberg würde dazu wohl sagen: Mannomann, war das ein Ritt. Und doch war es nur der Startpunkt einer immersiven Reise, einer Suche nach diesem einen unumstößlichen Beweis. Denn so sehr es uns die dämonische Stimme in unserem Kopf auch glauben machen will: Die Behauptungen sind falsch, wir haben keine Kinder ermordet. Auch nicht diesen kleinen Jungen, der nunmehr ins Zentrum unserer Beweisfindung rückt.
Dieser scheint Opfer eines fehlgeschlagenen Exorzismus geworden zu sein; unseres Exorzismus, wie wir des Späteren noch erfahren bzw. durchleben werden. Dennoch gilt die Wut des Jungen offenbar nicht uns, da die seinerseits mit uns angezettelten Kopfgespräche eher wohlwollender Natur sind. Sollten wir hier etwa ein Engelchen und ein Teufelchen mit uns herumtragen? Wir wissen nur, dass uns der Verstorbene zu den gewünschten Beweisen führen könnte.

Zeitreisen zwischen Paradies und Hölle
Unser Weg führt uns dabei an zahlreiche, meist surreale Orte zwischen Himmel und Hölle, deren optische Aufmachung teils staunen lässt. Gemeint sind damit jedoch weniger fotorealistische, extrem scharfe Texturen, die zum Teil ohnehin nicht gewollt sind. Es ist vielmehr die befremdliche Schönheit der osteuropäischen Landschaften und Bauwerke, welche bis ins kleinste Detail vor mal mehr, mal weniger religiösen Botschaften zu strotzen scheinen. Das genaue Hinsehen kann hier wirklich sehr viel offenbaren.

Und zum Hinsehen haben wir reichlich Zeit – und Ruhe. Von einigen clever eingefädelten und ebenso clever ausgeführten Jump Scares nämlich abgesehen, rückt uns kaum jemand (oder etwas) zu Leibe. Es gibt keine Knarren oder von Faustschlägen eingedrückte Gesichter, „nur“ einen Satz recht innovativer Kombinationsrätsel. Das heißt aber nicht, dass der Horror dadurch zu kurz käme, denn so manche vor uns liegende Denkaufgabe hat ein ziemlich beachtliches Ekel-Potantial.

Zum Glück gibt es da also noch die „normaleren“ Rätsel, zu deren Lösung es manchmal der Nutzung cooler Artefakte bedarf. Das Highlight dürfte hierbei wohl die Taschen-Zeitmaschine darstellen, mit deren Hilfe z.B. unpassierbares Gelände passierbar gemacht werden kann. Ferner hat uns das im späteren Spiel auftauchende Laboratorium-Rätsel gut gefallen – ganz im Gegensatz zur mäßigen Optimierung partikelreicher Map-Abschnitte. In letzteren kommt es nämlich selbst auf relativ starken Rechnern zu FPS-Einbrüchen, die so gar nicht ins Gesamtbild passen wollen.
Weitere Schwächen zeigen sich bei Gray Dawn im Bereich der Charaktermodelle, doch diese können noch so sehr an unserer hohen Grafikwertung rütteln; es wird ihnen nichts nützen. Viel zu beeindruckend ist die eng zusammenstehende Einheit aus Umgebungsgrafik und dem sehr atmosphärischen Sound, und viel zu interessant sind ihre zahlreichen Details.

Fazit: So schön ist das Böse selten
Videospiele sind Kunst, und Gray Dawn ist ganz große Kunst. Das bedeutet allerdings auch, dass dieses Sonder-Adventure nicht jedem Horrorfan gefallen kann. Wer handelsüblichen Schockern à la Resident Evil 7 den Vorzug gibt, der könnte sich hier unter Umständen sogar langweilen; wer sich hingegen von frischen Ideen ernährt, der dürfte sich in Vater Abrahams Soutane wie im siebten Himmel fühlen (zumindest im metaphorischen Sinne).
Mit einem Steam-Preis von aktuell nur 16,79 Euro verkauft sich das Entwicklerteam klar unter Wert. Denn auch, wenn des Paters Geschichte nur etwa drei bis viereinhalb Stunden andauert, ist und bleibt sie sehr, sehr wertvoll.