Der Name Cyberpunk 2077 fiel erstmals zu Zeiten, als Gangnam den Psycho Style hopste und Twitch die Nabelschnur zu Justin.tv durchtrennte. Manche von uns feierten damals gerade ihre erste Ejakulation – und ich frage mich, ob Werbekampagnen uns wirklich durch mehrere Lebensphasen begleiten müssen. Eine Kolumne über Marathonmarketing und reißende Geduldsfäden.
„Nich’ wahr, oder?“, das waren meine Gedanken, als ich vorhin über das Release Date von Cyberpunk 2077, der 16. April 2020, stolperte. Ja, stolperte. Denn verfolgt hatte ich die Entwicklung des Titels vielleicht bis vor vier Jahren, dann verlor ich das Interesse.
Warum? Das habe ich mich auch erst gefragt. Ich zähle nämlich zu den Leutchen, die von Warren Spectors Deus Ex zu einem 1a-Cyberpunkfan erzogen wurden. Damals, kurz nach der Jahrtausendwende.
Meine so entfachte Liebe zur Sci-Fi-Dystopie ließ mich sogar darüber hinwegsehen, dass Cyberpunk 2077 von CD Projekt Red stammt – den Machern der Rollenspielreihe um den notgeilen Hexer Gilbert (oder wie der Typ heißt). Immerhin war von den Polen nicht weniger als AAA-Qualität, also eine Art Deus Ex: Human Revolution zu erwarten.
Aber genau wie steter Tropfen den Stein höhlt, höhlt stetes Nichts den Verstand. Und das besondere Problem mit Cyberpunk 2077 ist, dass die ganze Schose schon mit Nichts begann.
Wir erinnern uns: Der Enthüllungstrailer zeigte 2012 kaum mehr als ein Cyberpunk-Logo über einer Handvoll Grafikbugs aus dem letzten Projekt. Es gab weder Städte- noch Charakterimpressionen, noch irgendetwas, das für uns wirklich von Interesse gewesen wäre. Aber gut, es war eben eine leere Ankündigung von CD Projekt Red.
Was passierte dann? Zur E3 2013 erschien ein Zeitlupentrailer, der einem brünetten Cyber-Häschen in Outdoor-Unterwäsche Projektile um die Ohren fliegen ließ. Sex & violence all the way, aber tja – so geht Marketing nun mal. Gameplay oder Cutscenes? Abermals Fehlanzeige, was daran lag, dass sich das Spiel noch gar nicht in der Entwicklung befand.
Diese begann erst über zwei Jahre später, nach dem Release des ersten Witcher-3-Add-Ons Hearts of Stone. Aber gut, dass wir schon mal darüber gesprochen (beziehungsweise die Spielemagazine darüber geschrieben) hatten.
Reichweite und ihre „Kollateralschäden“
Es ist zu einer Unart von Entwicklern und Publishern geworden, Spiele so lange zu bewerben, bis einer bricht. Da werden – wie im Falle von Cyberpunk 2077 – Produkte oft schon angekündigt, bevor sie überhaupt auf Molekularebene existieren. Und wenn Geralt (jetzt weiß ich den Namen wieder) in seinem nächsten Abenteuer flatulieren oder gar Schafe besteigen können wird, o mein Gott: Trailer! Teaser! Twitter! Reichweite!
Für Gott Reichweite muss jeder noch so kleine Furz unter die Leute gebracht werden. Auch auf die Gefahr hin, dass sich der ein oder andere irgendwann oral erleichtern muss, sprich: vom Hypetrain abspringt.
Als würde Mund-zu-Mund-Propaganda bei guten Spielen nicht regeln, werden lieber die Nerven klar denkender Geschöpfe so lange vergewaltigt, bis auch der letzte Marsmensch in Grönland den Produktnamen rückwärts pfeifen kann. Und ist einmal kein „Furz“ vorhanden, den man öffentlich breittreten könnte, gibt es immer noch das Marketingtool „Leaks und Gerüchte“.
Im Falle von Cyberpunk 2077 war das die Schlagzeile, dass sich womöglich Lady Kaka (oder wie die charmante Dame heißt) der einsamen Männerherzen von Night City annähme. Schließlich soll sie damals eventuell und unter Umständen vor dem Firmensitz von CD Projekt Red gesichtet worden sein.
Immerhin hat mit Keanu Reeves nun tatsächlich ein adäquater Promi Einzug ins Spiel gehalten. An der Destruktivität des Marathonmarketings ändert das jedoch nichts. Wenn wir ehrlich zu uns sind, wollen wir von CD Projekt Red & Co nämlich nur ein einziges Mal hören. Wir wollen hören: Hallo, wir haben fünf Jahre an Spiel XY gearbeitet, hier ist ein Trailer, das Ding kommt in ein, zwei Monaten … Punkt. Aus. Ende.
Ansonsten geht uns Gamern – nach und nach – jegliche Vorfreude und Euphorie verloren, was eigentlich nicht im Entwicklerinteresse sein kann. Denn nach Jahren der Werbung und des Vorwegnehmens sind wir so weit abgekühlt, dass wir das Produkt entsprechend nüchtern bewerten. Man denke dabei an Steam oder den Metascore.
Liebe Entwickler, ihr habt doch selbst mal gezockt. Und liebe Publisher, ihr wart vermutlich auch einmal Menschen. Vielleicht finden manche von euch ja doch noch auf den gesunden Mittelweg zurück; auf einen Weg, der beiden Seiten von Nutzen ist. Für begeistertere Gamer, für (noch) bessere Wertungen.